Beitrag vom 16. Mai 2023

Poesie und Wirklichkeit. Kinder- und Jugendliteratur zwischen Fantasie, Empirie und Ironie

Öffentlicher Vortrag auf der 70. VAKJP Jahrestagung 2023

Markus Schwahl, Weingarten

Die moderne Kinder- und Jugendliteratur seit den 1950er-Jahren geht nicht mit der Zeit; sie ist ihrmeistens voraus. Wie kein anderes literarisches Genre erspürt sie frühzeitig die Notwendigkeitgesellschaftlicher Erneuerung, verleiht dieser einen bildstarken und sprachlich leicht zugänglichenAusdruck und verstärkt hierdurch soziale und kulturelle Entwicklungen, wenn sie diese nicht sogarauslöst. Ihre emotionale, moralische und politische Wirkungsmacht auf junge Leser*innen und derenFamilien, auf Pädagog*innen, Bildungsinstitutionen und schulische Curricula kann gar nicht hoch genugeingeschätzt werden. Kinder- und jugendliterarische Texte repräsentieren jedoch nicht nur eine niederschwellige unddadurch besonders einflussreiche Form der Sozialgeschichtsschreibung. Zuallererst artikulieren sie denunverstellten Blick ihrer jungen Held*innen auf die zeitgenössische Wirklichkeit und dadurch implizitauch das Bild, das sich ihre erwachsenen Autor*innen von der jugendlichen Lebenswelt machen. Derin der modernen Kinder- und Jugendliteratur jeweils vorherrschende Diskurs transportiert somit stetseine Aussage darüber, wie wir uns Kindheit in unserer Zeit wünschen oder wodurch wir sie gefährdetsehen. Sein utopischer oder dystopischer, fantastischer, sozialkritischer oder humorvoll-ironischerErzählmodus eröffnet einen fiktionalen Möglichkeitsraum, in dem die Wirklichkeit poetisch wird unddas Poetische wirklich.